Live-Mitschnitt der Werkeinführung zur Vorstellung „Madame Butterfly“ imTheater für Niedersachsen (TfN), gehalten am 28.03.2016 von Ivo Zöllner
Programmheft Madame Butterfly
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GIACOMO PUCCINI UND SEINE „JAPANISCHE TRAGÖDIE“
Als der greise Giuseppe Verdi im Januar 1901 starb, war der Kampf um seine
Nachfolge längst entschieden, denn spätestens seit dem Sensationserfolg seiner
„Tosca“ im Jahre 1900 galt Giacomo Puccini (1858 – 1924) unumstritten als der
führende Opernkomponist Italiens. Die Frage für ihn war nun, mit welchem neuen
Opernstoff er diesen Spitzenplatz behaupten und festigen konnte? Er machte es sich nicht leicht, erwog viele höchst unterschiedliche Stoffe und verwarf sie wieder.
Im Sommer 1900 weilte der Komponist anlässlich der britischen Erstaufführung
seiner „Tosca“ in London und sah sich dort in einem Theater das Stück „Madame
Butterfly“ des Amerikaners David Belasco (1853 – 1931) an. Obwohl Puccini, der
kaum englisch sprach, den Text nicht verstehen konnte, war er von der Optik dieser
Aufführung gefesselt. Allerdings konnte er erst im März 1901 die Vertonungsrechte
erwerben. Er erhielt eine Übersetzung der Erzählung von John Luther Long, auf
der Belascos gleichnamiger Einakter beruhte und auf deren Grundlage sich seine
Librettisten Luigi Illica und Giuseppe Giacosa sogleich an die Arbeit machen konnten.
Am 23. November 1901 begann Puccini mit der Komposition, in die er Anklänge
an japanische Musik als Lokalkolorit einfließen lassen wollte. Es war dies auch
der bewusste Versuch der Erweiterung seiner Musiksprache, quasi mit einer
stofflich-realistischen Legitimation dafür. Fernöstliche Anleihen spielten damals
auch in der Musiksprache von Claude Debussy eine bedeutende Rolle. Da
Puccini besorgt war, zu wenig über japanische Musik zu wissen, traf er Mitte
September 1902 mehrfach die Frau des japanischen Botschafters, die ihn beriet.
Der Fortgang der Komposition wurde durch einen spektakulären Autounfall
verzögert, den der Komponist am 25. Februar 1903 erlitt und der ihn monatelang
ans Bett fesselte. Als am Tag nach dem Unfall auch noch der verlassene
Ehemann von Puccinis langjähriger Lebensgefährtin Elvira verstarb, betrachtete
Puccini beide Ereignisse als Wink des Schicksals: Er beendete seine Affäre
mit einer Geliebten in Turin und beschloss, Elvira endlich zu heiraten. Diese
persönlichen Ereignisse und seine daraus resultierende „Läuterung“ waren
für die weitere Ausformung seiner Oper entscheidend, denn erst jetzt konnte
sich Puccini wirklich in seine leidende Titelheldin hineinversetzen. Ende
Dezember 1903 beendete Puccini seine Partitur und wenige Tage später fand
– nach fast zwanzigjähriger „wilder Ehe“ – seine Hochzeit mit Elvira statt.
Die Uraufführung der „Madame Butterfly“ am 17. Februar 1904 an der Mailänder
Scala wurde völlig überraschend zum größten Misserfolg, den der Komponist
erleben musste. War es ein bestellter Skandal, in Auftrag gegeben von Puccinis
größtem Konkurrenten Pietro Mascagni? Stimmte der Vorwurf, Puccini schreite
zu sehr auf den gewohnten Spuren seines Erfolges fort oder war es gerade die
unerwartete Modernität seiner Musiksprache, die auf wenig Gegenliebe stieß? Nahm
das hochrangige Premierenpublikum gar am Stoff selbst Anstoß? Ein Stück, das die
Folgen gedankenlosen Kolonialismus’ für die einheimischen Menschen geißelte,
während Italien gerade bestrebt war, andere Länder zu kolonialisieren? Vermutlich
spielte dies alles eine Rolle – neben der Überlänge des zweiten Aktes, zu dessen
Ausmaß Arturo Toscanini sagte: „Bei Wagner ja, bei Puccini nein.“ Der Komponist
und seine Librettisten zogen die Oper nach der missratenen Uraufführung sofort
zurück und untersagten der Scala weitere Aufführungen. Puccini sah die Schuld
größtenteils bei sich, unterteilte den zu langen zweiten Akt, nahm Straffungen bei
den Familienszenen im ersten Akt vor und komponierte seinem Pinkerton für
den dritten Akt noch eine Arie. In dieser modifizierten Fassung erlebte die Oper
am 28. Mai am kleinen Theater in Brescia einen triumphalen Erfolg, der Puccinis
„japanischer Tragödie“ (so der Untertitel des Belasco-Stücks) seitdem treu blieb.
Die Musik zu seiner einzigen Gegenwartsoper ging in ihrer Kühnheit über alle seine
bisherigen Kompositionen weit hinaus. Der erste Akt beginnt überraschenderweise
mit der Exposition einer strengen vierstimmigen Fuge, die in der europäischen Musik
für traditionelle Konvention steht und so die japanische Kultur charakterisieren soll.
Pinkertons Credo der Leichtfertigkeit wird hingegen mit der amerikanischen National – hymne eingeleitet. Dem ersten Auftritt Butterflys liegt die Melodie eines japanischen
Volksliedes zugrunde. Im exotischen Gewand werden hier die Grundfesten
europäischer Tonalität infrage gestellt. Und nicht erst der verstörende, weil so
unerwartete Schlussakkord der Oper, der eine schmerzhafte Anklage des zuvor
Erlebten ist, zeigt Puccini als meisterhaften Komponisten auf der Höhe seiner Zeit.
Ivo Zöllner