Anspruchsvoller „Boccaccio“ – ein Interview mit Ivo Zöllner

Quelle: die Franz von Suppé Seite von Uwe Aisenpreis

Aus der Produktion des Theaters für Niedersachsen, Hildesheim. Foto: Jochen Quast (www.JochenQuast.de)

Nachdem „Boccaccio“ seit über fünf Jahren nicht mehr auf einer deutschen Bühne zu sehen war, hat sich das Theater für Niedersachsen, Hildesheim, wieder einmal dieses Meisterwerkes angenommen. Den Hildesheimern gelang eine Produktion von hoher Qualität, die ihr auch von der Kritik bescheinigt wurde. Nachfolgendes Interview mit dem Musikdramaturgen des Hildesheimer Theaters, Ivo Zöllner, geht u. a. der Frage nach, warum „Boccaccio“ so wenig auf deutschsprachigen Bühnen präsent ist.

u.a.: Ihr Haus hat für die Spielzeit 2015/2016 die Operette „Boccaccio“ von Franz von Suppé ins Programm aufgenommen. Wer in Ihrem Haus hat die Auswahl getroffen und nach welchen Kriterien?

Ivo Zöllner: Diese Auswahl trifft unser Spartenleiter, Operndirektor Werner Seitzer, natürlich nicht ohne Beratung mit anderen, nach den Kriterien der Qualität und Ausgewogenheit des Spielplans. Dazu gehört bei uns eine jährliche Operettenproduktion.

u.a.: Volker Klotz weist in seinem Standardwerk „Operette – Handbuch einer unerhörten Kunst“ darauf hin, dass „Boccaccio“ neben „Fledermaus“ und „Bettelstudent“ als das Nonplusultra der frühen Wiener Operette gilt. Teilen Sie diese Ansicht?

Ivo Zöllner: Ja, diese Ansicht teile ich, auch wenn die anderen genannten Werke populärer sind.

u.a.: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum diese Operette entgegen der hohen Einschätzung von Experten so wenig auf deutschsprachigen Bühnen präsent ist? Man spricht heutzutage schon von einer Rarität.

Ivo Zöllner: Das Werk ist in der Umsetzung weit anspruchsvoller als andere, die Chorpart ist für eine Operette riesig und die Solistenbesetzung ungewöhnlich umfangreich. Man braucht für dieses Stück zwölf Gesangssolisten, wir haben aber überhaupt nur acht im Ensemble, benötigen also vier Gäste. Einen „Zarewitsch“ kann man mit nur vier Sängern besetzen (alles andere sind Sprechrollen und vernachlässigenswert). Und wenn man dann bei einem solchen vergleichsweise leicht umzusetzenden Stück eine mindestens ebenso große Resonanz beim Publikum erwarten kann, ist es doch klar, dass man solche aufwändigen Stücke eher meidet.

u.a.: Sind nicht „Fledermaus“ und „Bettelstudent“ ähnlich aufwändig?

Ivo Zöllner: nein, ich finde „Boccaccio“ noch deutlich aufwändiger als „Fledermaus“ und „Bettelstudent“, die Personage und der Chorpart sind noch deutlich umfangreicher und es gibt mehr Ensemblesätze.

u.a.: Wie ich irgendwo gelesen habe, wurde auch in Ihrem Haus „Boccaccio“ zuletzt vor 35 Jahren gegeben.

Ivo Zöllner: Die letzte Hildesheimer Premiere fand vor 32 Jahren statt – und da wir das Stück schätzen, waren wir der Meinung, dass die Zeit mal wieder reif dafür ist.

u.a.: Auch in anderen Medien wie Rundfunk und Tonträgern (vom Fernsehen gar nicht zu sprechen) ist diese Operette weit unterrepräsentiert und dadurch beim heutigen Publikum wohl kaum populär. Glauben Sie, dass dies auch Einfluss auf den Theaterspielplan hat?

Ivo Zöllner: Ja, ich glaube, dass die relativ geringe Popularität von „Boccaccio“ (etwa im Gegensatz zu den drei großen Strauß-Erfolgen) neben der großen Aufwändigkeit natürlich Einfluss darauf hat, dass diese Operette inzwischen so selten gespielt wird, obwohl sie so gut ist, musikalisch sowieso und auch von der Handlung her, die aus meiner Sicht wesentlich unkomplizierter und moderner ist als etwa „Zigeunerbaron“.

u.a.: Ich hatte Ihnen bereits eine außerordentliche Qualität Ihrer Inszenierung bestätigt. Der Erfolg hat viele Väter. Erzählen Sie mir, wer da alles, vor allem auch hinter den Kulissen, dazu beigetragen hat.

Ivo Zöllner: Theater, Oper und Operette ist immer Teamwork, und nur wenn alle Beteiligten ihr Bestes geben, kann es funktionieren.

u.a.: Wie schätzen Sie die Reaktionen des Publikums ein?

Ivo Zöllner: Positiv, uneingeschränkt positiv. „Theaterskandale“ sind an unserem Theater im Allgemeinen und beim Musiktheater des TfN im Besonderen ohnehin die absolute Ausnahme, auch wenn einzelne Produktionen auch mal nicht so gut beim Publikum ankommen wie erhofft. Letzteres ist bei dieser Produktion aber nicht der Fall.

u.a.: Wenn ich richtig mitgezählt habe, sind für Hildesheim insgesamt nur 9 und für Gastspiele nochmals 10 Vorstellungen vorgesehen, also insgesamt 19. Ist diese Anzahl normal für Operetten in Ihrem Hause?

Ivo Zöllner: Die Anzahl der jetzt geplanten Hildesheim-Vorstellungen liegt absolut im Durchschnitt und ergibt sich auch aus unserer Abonnentenzahl – zusätzliche Freiverkaufsvorstellungen noch in dieser Spielzeit sind bei entsprechender Nachfrage aber keineswegs ausgeschlossen, sondern sogar wahrscheinlich.

Die Anzahl der gebuchten Gastspiele ist erfreulicherweise überdurchschnittlich hoch – hier rechnet es sich doch, dass kaum ein anderes Gastier-Theater diese aufwändige Operette anbietet. So können wir „Boccaccio“ nicht nur in Hildesheim, sondern auch in Wolfenbüttel, Herford, Fulda, Itzehoe, Gifhorn, Nienburg, Hameln, Neumünster und Bernburg spielen – also in fast ganz Niedersachsen und zahlreichen angrenzenden Bundesländern. Zu all diesen Vorstellungen wurden wir vom örtlichen Theater eingeladen, also als Gastspiel gebucht. Nur unsere Hannover-Vorstellung am 27. März 2016 veranstalten wir sozusagen auf eigene Faust, indem wir für einen Abend das Theater am Aegi mieten, um einen Beitrag zum ansonsten nicht sehr großen Hannoveraner Operetten-Angebot zu leisten.

u.a.: Gibt es bei entsprechender Resonanz eine Wiederaufnahme in der nachfolgenden Spielzeit?

Ivo Zöllner: Das ist zwar nicht ausgeschlossenen, aber eher unwahrscheinlich, weil wir das Stück in der kommenden Spielzeit nicht mehr in unserem Gastspielangebot haben und wir eben nicht nur Stadttheater, sondern auch Landesbühne sind – und diese wichtige Funktion unseres Theaters bestimmt natürlich auch unsere Spielplanüberlegungen, womit sich der Kreis zu Ihrer ersten Frage geschlossen hätte.

November 2015. Die Fragen stellte Uwe Aisenpreis. Vielen Dank an Herrn Ivo Zöllner für seine geduldige Kooperationsbereitschaft, auch schon im Vorfeld dieses Interviews.


BoccaccioBoccaccio und sein „Decamerone“

Giovanni Boccaccio (1313 – 1375) war einer der herausragenden italienischen Schriftsteller der Renaissance. Er wuchs in Florenz auf, wo sein Vater für eine Bankgesellschaft arbeitete, wurde aber mit etwa 14 Jahren nach Neapel geschickt. Dort sollte er kanonisches Recht studieren und den Kaufmannsberuf erlernen, doch seine Neigungen kamen diesem väterlichen Wunsch kaum entgegen. Viel lieber widmete er sich der Literatur und den alten Sprachen, knüpfte Kontakte zu Literaten und Gelehrten. Am Hofe König Roberts lernte er dessen Tochter, die neapolitanische Prinzessin Maria d’Anjou kennen, die wohl das historische Vorbild für seine „Fiametta“ wurde: die ideale Geliebte in zahlreichen seiner literarischen Werke. 1336-38 schrieb er als sein Erstlingswerk den Roman „Il Filocolo“.

Bis 1340 blieb Boccaccio in Neapel und kehrte dann nach Florenz zurück, arbeitete aber auch als Notar und Richter in Ravenna und Forli. In dieser Zeit entstand sein Roman „Fiametta“.

1348 wütete die Pest in Europa und besonders stark in Florenz. Der Verzweiflung der Florentiner setzte Boccaccio mit seinem „Decamerone“ Hoffnung und Lebensfreude entgegen. In dieser Sammlung von hundert Novellen – hundert Geschichten, die sich zehn junge Leute zehn Tage hindurch in einer Florentiner Villa gegenseitig erzählen – spielt die Erotik eine große Rolle, auch wenn alle Milieus der damaligen Zeit vorkom- men und eine starke gesellschafts- und religionskritische Note auffällig ist. 1350 lernte Boccaccio den Dichter Francesco Petrarca kennen und schloss mit ihm eine lebenslange Freundschaft. Gemeinsam trugen sie viel zur Wiederentdeckung der Antike bei. Boccaccio wendete sich nun verstärkt der Religion und den Wissenschaften zu, erhielt in Florenz sogar einen Dante-Lehrstuhl, nachdem er bereits Jahre zuvor eine Dante-Biografie verfasst hatte. Aufgrund seines sich verschlechternden Gesundheitszustands musste er diese Lehrtätigkeit jedoch rasch wieder aufgeben. 1374 zog er sich aus der Öffentlichkeit auf seinen Landsitz nach Certaldo bei Florenz zurück, wo er wenig später starb.

Der gewaltige Erfolg des „Decamerone“ war für ihn Segen und Fluch zugleich, machte dieses literarische Werk seinen Namen doch unsterblich und verstellte zugleich lange den Blick auf die anderen Facetten seines Wirkens.
Ivo Zöllner